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Neuansiedlung

Wegen der Ausweisung der Juden im Rahmen des Sternberger Hostienfrevelprozesses und des anschließenden Rabbinerbannes auf Mecklenburg siedelten sich erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts unter dem Herzog Christian Ludwig I. wieder Juden in Mecklenburg an. Ihre zweite Neuansiedlung in Mecklenburg ist nach Ansicht des Güstrower Rabbiners Dr. Ludwig Donath wohl ursprünglich dem Interesse dieses Herzogs am Tabakhandel zu verdanken. Er rief die Juden Abraham Hagen und Nathan Benedix aus Hamburg eigens an seinen Hof, um ihnen am 1. Juni 1679 ein Handelsprivileg auf das Tabakmonopol zu erteilen. Nachdem dieses Privileg dann die Hoflieferanten Gebrüder Bendit und Ruben Goldschmidt aus Hamburg übernahmen, sie aber nicht nach Schwerin übersiedeln wollten, erhielt auf deren Vorschlag der portugiesische Jude Michel Henrichs / Henriques (Hinrichsen) aus Glückstadt deren Position als Hofagent in Schwerin. Auch wenn er später beim Herzog in Ungnade fiel, sollte er der Stammahn der bekannten jüdischen Familie Hinrichsen in Mecklenburg und Hamburg und einer der Mitbegründer der jüdischen Gemeinde in Schwerin werden. Neben ihm waren auch die Gebrüder Nathan Aaron (auch Joseph Natha genannt) und Philipp Nathan (auch Liepmann/Elieser genannt) aus Frankfurt an der Oder für die spätere Entwicklung der jüdischen Gemeinde in Schwerin im Speziellen, aber auch für die Mecklenburger Gemeinden im Allgemeinen bedeutsam. Insbesondere Philip Nathan, der den Familiennamen Aaron annahm, später dann den Namen Aron-Pach führte und Petschierstecher am Hofe des Herzogs wurde, sorgte mit seiner Nähe zum Herzog dafür, dass zugezogene Juden Schutzbriefe erhielten.

Dies führte allmählich zur Entstehung von neuen oder dem vorsichtigen Aufblühen bereits bestehender jüdischer Gemeinden in praktisch jeder Stadt in Mecklenburg. Als bedeutsame Gemeinden sind vor allem diejenigen in Parchim und Schwerin zu nennen, wohingegen Wismar und Rostock sich immer noch vehement gegen den Zuzug von Juden stellten.

Laut Donath betrug im Jahr 1727 die Zahl der in Mecklenburg Handel treibenden Juden etwa 300 bis 400. Im Jahr 1752 sollen in Mecklenburg-Schwerin ebenfalls ca. 200 und in Mecklenburg-Strelitz ca. 100 jüdische Familien ansässig gewesen sein. Etwas mehr als ein Jahrzehnt später gab der Bützower Rabbi Chaim Friedberg die Zahl der Familien mit 250 im Mecklenburgischen und im Strelitzischen mit immer noch 100 an, was insgesamt gesehen – wenn überhaupt – nur ein geringfügiges Anwachsen der jüdischen Bevölkerung bedeutete. Schätzungen zufolge hat es wohl auch zu keiner Zeit insgesamt mehr als 3300 Juden im Mecklenburger Raum gegeben. Gestützt wird diese Annahme auch durch eine spätere Angabe im „Großherzoglichen Mecklenburg-Schwerinscher Staats- Kalender”, der die „JudenGemeinden nach obrigkeitlichen Zählungen vom Herbste 1833 in Gemässheit der CircularVerordnung vom 23 Septbr. 1818” aufführte und die Gesamtanzahl der Juden mit 3121 bezifferte.

Soweit es die Rechtsstellung der Juden angeht, waren sie – wie im Übrigen aber auch andere gesellschaftliche Gruppen und sogar die Frauen selbst – der übrigen männlichen Bevölkerung dauerhaft nicht gleichgestellt. Im Jahr 1755 wurde der Landesgrundgesetzliche Erbvergleich für Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz abgeschlossen, welcher fortan die grundlegende Verfassung für Mecklenburg darstellte. Er regelte die Rechte und Pflichten der Einwohner, Staatsorgane und verschiedenen Parteien untereinander, legte aber auch die Rechte und Pflichten der Juden fest und verdeutlichte damit, dass sie zu einem festen und beständigen Faktor in Mecklenburg geworden waren. Ein echter Fortschritt für die Rechtsstellung der Juden war er aber nicht. Zwar durften die Juden anders als zuvor danach beispielsweise Häuser erwerben, jedoch keinerlei Grund und Boden dazu. Alles in allem waren sie auch danach gegenüber der übrigen Bevölkerung rechtlich benachteiligt, was – wie in vielen anderen europäischen und deutschen Ländern – auch in Mecklenburg zu einer Emanzipationsbewegung der Juden führte. Erster Ausdruck dessen und auch des gewachsenen jüdischen Selbstbewusstseins waren die Landtage, die die Juden 1752 in Malchin, 1764 in Schwaan und 1767 in Crivitz abhielten.

Erst im 19. Jahrhundert war für sie die Zeit für eine Emanzipation gekommen. Als bereits in anderen deutschen Landen die Juden ihre Rechte einforderten oder eingefordert hatten, traten auch die Juden in Mecklenburg an die Landesfürsten heran. Im Herzogtum Mecklenburg-Schwerin richteten der Oberhofagent Ruben Michel Hinrichsen und der Holzhändler Nathan Mendel, die beiden Vorsteher der Israelitischen Gemeinde in Schwerin, ihre diesbezügliche Petition vom 22. Februar 1811 an den Herzog Friedrich Franz I. mit dem „Antrag auf Erteilung der allgemeinen Staatsbürgerlichen Rechte“. Gegen den Widerstand der Adelsstände wurden durch die Herzöge schließlich in den Jahren 1813/14 in Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz entsprechende Emanzipationsedikte erlassen, die den Juden weitergehende Rechte einräumten. Insbesondere der Herzog und spätere Großherzog Friedrich Franz I. von Mecklenburg-Schwerin tat sich in dieser Zeit und auch später durchaus als Gönner der Juden hervor. Verbunden mit der Emanzipation war im Übrigen auch die Forderung des Herzogs, dass die Juden nun erbliche Familiennamen anzunehmen hätten So führte die Emanzipation indirekt dazu, dass die meisten Mecklenburger Juden seit 1813/14 nun erbliche Familiennamen führten.

Dieser gesellschaftliche Erfolg der Juden führte jedoch schon bald zu einer breiten Gegenbewegung in den deutschen Landen, die später unter dem Namen „Hep-Hep-Krawalle” bekannt geworden ist und im Gegensatz zu Mecklenburg andernorts durchaus Opfer unter den Juden forderte. Diese Gegenbewegung war in Mecklenburg aber schon 1817 erfolgreich gewesen, als die errungenen Rechte der dortigen Juden schon im diesem Jahr kassiert worden waren.

Die rechtliche Lage der Juden verbesserte sich in den späteren Jahrzehnten dennoch unmerklich. So wurde 1847 das Schutzgeld für Juden abgeschafft und ihnen später auch der Erwerb zumindest städtischer Hausgrundstücke erlaubt. Doch erst mit der Schaffung des Norddeutschen Bundes im Jahre 1867 und schließlich mit dem Gesetz Wilhelms von Preußen vom 3. Juli 1869 wurden ihnen die vollen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten zugestanden, womit sie nun erstmals zu vollwertigen Reichsbürgern aufstiegen. Auch wenn nun eine Zeit der Blüte für die Mecklenburger Juden anbrach, läutete wohl gerade das doch das Ende vieler Mecklenburger Gemeinden ein. Die neue Freiheit nutzend, verließen viele Nachkommen der alteingesessenen Juden wegen besserer Entwicklungschancen in der Folgezeit Mecklenburg in Richtung der Großstädte oder wanderten sogar nach Übersee aus. Nicht wenige ließen sich taufen, um sich vollends zu assimilieren und auch um als deutsche Staatsbürger anerkannt zu werden. Zahlreiche jüdische Gemeinden in Mecklenburg mussten so aufgrund der schwindenden Mitgliederzahlen gegen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts aufgelöst oder größeren Gemeinden in anderen Städten angeschlossen werden.

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(Gramenz, Jürgen / Ulmer, Sylvia - 20.09.2015)
Quellen:

  • Archiv für Landeskunde in den Großherzogthümern Mecklenburg und Revüe der Landwirthschaft, Verlag der Hofbuchdruckerei von J. W. Sandmeyer, Schwerin
  • Donath, Leopold: Geschichte der Juden in Mecklenburg von den ältesten Zeiten (1266) bis auf die Gegenwart (1874), Verlag Oskar Leiner, Leipzig 1874
  • Feder Lee, Anne / London, Jacqueline: Jewish Family Name Adoption in Mecklenburg. In: Avotaynu. The International Review of Jewish Genealogy. XIV [Summer 1998], Nr. 2, S. 39.
  • Gramenz, Jürgen / Ulmer, Sylvia: Die Juden von Brüel: Rekonstruktion einer Gemeinde, Cardamina-Verlag, Plaidt 2013
  • Gramenz, Jürgen / Ulmer, Sylvia: Die jüdische Geschichte der Stadt Sternberg (Mecklenburg), Verlag tredition, Hamburg 2015
  • Großherzoglich Mecklenburg-Schwerinscher Staats-Kalender, Verlag der Hofbuchdruckerei
  • Silberstein, Siegfried: Die Familiennamen der Juden unter besonderer Berücksichtigung der gesetzlichen Festlegung in Mecklenburg, Sonderdruck aus der Festschrift zum 75jährigen Bestehen des Jüdisch-Theologischen Seminars Fraenckelscher Stiftung, II. Band, Th. Schatzky A.-G., Breslau 1929