Neukalen
Zur jüdischen Geschichte von Neukalen
Für die Stadt Neukalen gibt es derzeit keinerlei Hinweise auf eine jüdische Gemeinde während der Zeit der jüdischen Erstbesiedlung Mecklenburgs. Die jüdische Wiederbesiedlung erfolgte in Neukalen vergleichwsweise früh. Laut einer Schutzjudenliste aus dem Jahre 1760 war der erste, in Neukalen ansässige Schutzjude ein Mann namens Salomon Isaak, der sein Privileg für Neukalen am 14. August 1753 erhalten hatte, ursprünglich jedoch in Ribnitz ansässig gewesen war und dort sein Handelsgeschäft betrieben hatte. Dieser war jedoch durch einen dortigen Brand zeitweise gezwungen, sich hier mit herzoglicher Billigung niederzulassen. Ihm folgten David Hirsch mit seinem Privileg vom 7. Dezember 1853, Israel Marcus mit Privileg vom 6. Februar 1756 und Hirsch Jacob, der seinen Schutzbrief am 18. Juli 1859 erhalten hatte. Wie ein Magistratsprotokoll vom 31. März 1757 bezeugt, waren allerdings in gleichen Jahr nur die beiden Schutzjuden David Hirsch und Israel Marcus im Ort gemeldet, obwohl Salomon Isaak durchgängig seit 1753 bis 1759 sein Schutzgeld in Höhe von 12 Reichstalern entrichtete.
In einem Bittschreiben der Neukalener Judenschaft an den Landesherrn aus dem Jahre 1758 ist bereits eine Synagoge erwähnt, ohne dass die genaue Lage dort benannt wurde. Es dürfte sich jedoch nur um einen Betraum in einer privaten Wohnung gehandelt haben. Einer weiteren Bittschrift aus dem Jahr 1760 zufolge, die die Schutzjuden Hirsch Jacob, Israel Marcus und David Hirsch verfassten, begaben sich diese an Festtagen und zum Schabbat zum Gottesdienst entweder nach Dargun oder Malchin.
Die ansässigen Schutzjuden hatten offensichtlich schon mit Beginn ihrer Niederlassung in Neukalen die zwei Handelsknechte Samuel Levin und Meyer Levin. Da ihnen der Knechtslohn wohl nicht zum Leben genügte, bezogen sie auch einen Verdienst bei der Königlichen Schwedischen Armee, wo sie als Marketender tätig waren. Mit Unterstützung der drei Schutzjuden beantragten diese für Neukalen schließlich ein eigenes Privileg. Wann sie dieses erhielten, ist nicht belegt, jedoch muss das nach 1760 erfolgt sein, da sie in der Schutzjudenliste von 1760 noch nicht aufgeführt wurden. Spätestens 1763 werden Meyer und Samuel Levin jedoch explizit als Neukalener Schutzjuden erwähnt. Im gleichen Jahr bestand die kleine jüdische Gemeinde aus insgesamt acht Personen. Darunter befand sich auch Jacob Levin, der Stiefsohn des Schutzjuden Hirsch Jacob. Dieser war seit 1759 in Plau privilegiert, hatte dort eine Michette Mendels geheiratet, besaß kein zusätzliches Privileg für Neukalen, ging aber wohl hier trotzdem seinem Handelsgeschäft nach. Er wurde deshalb noch im gleichen Jahr auf Antrag der jüdischen Gemeinde wegen unlauteren Handels aus der Stadt verwiesen.
Die kleine jüdische Gemeinde in Neukalen muss zahlreiche Verbindungen zu anderen Mecklenburger Gemeinden gehabt haben. Neben den bereits erwähnten Beziehungen zu Dargun und Malchin erwähnt der Orientalist Oluf Tychsen in seinen „Bützowischen Nebenstunden“ für das Jahr 1767 einen jüdischen Musiker namens Fidel Isaac in Penzlin, dessen Frau ausgerechnet in Neukalen erschossen worden war. Leider werden dort die genaueren Umstände dieses Falles nicht erläutert.
Die Neukalener Schutzjuden mussten wohl hart um ihr Auskommen kämpfen. So beantragte der Neukalener Schutzjude 1770 eine Minderung seines Schutzgeld. Gleiches versuchte nur ein Jahr später auch der Schutzjude Meyer Levin. Auch Hirsch Jacob scheint es nicht gut gegangen zu sein, denn zusammen mit Meyer Levin sollte er schon 1770 aus Neukalen ausgewiesen werden. Ihnen gelang es aber, ihr Privileg zu behalten, so dass 1797 insgesamt sechs Schutzjuden in Neukalen ansässig waren. Bis 1812 erhöhte sich ihre Zahl durch Zuzüge auf insgesamt neun.
Mit dem Erlass des Emanzipationsedikts am 22. Februar 1813 erfolgte noch im gleichen Jahr auch in Neukalen die landesherrlich geforderte Annahme erblicher Familiennamen bei den Juden. Die Neukalener Meldeliste enthielt nun insgesamt elf Namen: Berenssohn (später Behrens),Berg, Bernhard, Löwe (später Löwi),Löwenthal, Matthäi, Michaelis,Saalfeldt, Salender, Salinger und Soldin.- 1813 Lehrer Jacob Sohn. Wie die geringere Anzahl der Schutzjuden belegt, dürften hier vereinzelt Brüder oder Söhne unterschiedliche Familiennamen angenommen haben.
1817 wurde in Neukalen eine Mikwe errichtet. Wie dem damaligen Antrag zu entnehmen ist, dürfte zu diesem Zeitpunkt Julius Saalfeld der Vorsteher der jüdischen Gemeinde gewesen sein. Eine Schutzgeldliste von Neukalen aus dem Jahr 1825 führt für dieses Jahr insgesamt 12 Schutzjuden auf: Julius Saalfeldt, David Löwe,Gottschalck Soldin, Heinrich Salinger,Abraham Berg, Leopold Matthaei,Jacob Saländer, Bernhard Saalfeldt, Abraham Hirsch,Wolf Ledermann, die Wittwe Hirsch und Joseph Mendel.
Wie in den meisten Mecklenburger Gemeinden gab es auch hier schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Religionslehrer. Überliefert sind für 1824 ein Lehrer namens Jaffe, für 1827 der Lehrer Isaak Kronenberg und für 1845 der Religionslehrer Jacob Türckheim. Aus der zweiten Hälfte sind noch für 1852 der Religionslehrer Heinrich Cohn, für 1853 der Lehrer J. Schreiber und für 1854 der Lehrer Isaac Cohn bekannt.
Wie einem Antrag auf Vergrößerung des jüdischen Friedhofs um etwa 70 qm aus dem Jahre 1829 entnommen werden kann, war zu diesem Zeitpunkt Gottschalk Soldin Vorsteher der jüdischen Gemeinde. Dieser Antrag ist im Übrigen auch die früheste Erwähnung eines jüdischen Friedhofs in Neukalen. Aufgrund der frühen Ansiedlung von Schutzjudenfamilien dürfte dieser aber wesentlich früher angelegt worden sein, sehr wahrscheinlich in der späten zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Im Jahre 1843 erhielt die Israelitische Gemeinde von Neukalen eine neue Synagoge. Sie wurde auf Grund einer Schenkung von Nachkommen Neukalener Juden erbaut. Gleichzeitig wurde ein Stiftshaus für bedürftige Witwen errichtet. Beide Gebäude lagen in der Wasserstraße.
Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts erhielt wie viele andere jüdische Gemeinden in Mecklenburg auch Neukalen eine landesherrlich verordnete Gemeindeordnung, genauer am 30. Mai 1846. Diese sah wie üblich einen Vorsteher, einen Rechnungsführer (Kassierer) und ein Patronatatsamt vor, das in der Regel durch den Bürgermeister bekleidet wurde. Zumindest als Vorstandsmitglieder sind später August Ascher, Heinrich Freudenthal, Adolph W. Cohn, ein H. Lippmann und Meyer David Löwi überliefert, ohne dass ihre genaue Funktion im Vorstand bekannt sind.
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts war die jüdische Gemeinde rasant gewachsen. Gegen 1820 waren hier etwa 70 Juden ansässig. Diese Zahl blieb bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts bei über 60 annähernd gleich, nahm dann aber wegen der allgemeinen Abwanderung und Emigration nach Übersee aus Mecklenburg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts rapide ab. Um 1900 waren nur noch unter 20 Personen jüdischen Glaubens in Neukalen. Schon 1887 gab es nur noch drei jüdischen Familien: Salender, Bragenheim und Löwi Der Mitgliederschwund hatte seine Folgen. So gab es schon längere Zeit keinen Gottesdienst mehr. Doch wesentlich nachteiliger waren nun die fehlenden Gemeindebeiträge, was dazu führte, dass die Gemeinde aus finanziellen Gründen daran dachte, die Synagoge verkaufen. Ein entsprechender Antrag beim Israelitische Oberrat wurde jedoch zunächst abgelehnt. Doch 1894 war die Synagoge bereits in einem solch reparaturbedürftigen Zustand, dass dies durch die Gemeinde nicht mehr getragen werden konnte. Der damalige Vorsteher Hermann Löwi bemühte sich deshalb erneut um den Verkauf der Synagoge und um einen Anschluss an die jüdische Gemeinde in Dargun. 1899 wurde die Synagoge zusammen mit dem jüdischen Stiftshaus dann durch den Magistrat im Auftrag der jüdischen Gemeinde an privat veräußert.
Noch im gleichen Jahr fanden auch die Auflösungsverhandlungen statt, die federführend durch den letzte Gemeindevorsteher Hermann Löwi abgewickelt wurden. Mit Auflösungsvertrag vom 21. August 1899 übernahm die Stadt Neukalen alle Verpflichtungen, die sich aus dem jüdischen Stiftshaus ergaben, und versprach auch, für die Erhaltung des jüdischen Friedhofs mit Ausnahme der Gräber zu sorgen. Die wenigen noch in Neukalen wohnenden Juden schlossen sich offiziell ab 1. März 1900 der Gemeinde in Dargun an, nahmen jedoch fast nie an Gottesdiensten in Dargun teil. Von den drei noch anwesenden Familien verließ der letzte Bragenheim 1926 Neukalen.
Zur Machtergreifung der Nationalsozialisten lebten noch die Familien Löwi und Salender in Neukalen. Wie überall begannen auch in Neukalen die üblichen Repressalien gegen Juden. Johanna Löwi musste ihr Textilgeschäft unter Preis verkaufen und verließ 1935 Neukalen. Die letzten Juden in Neukalen waren danach nur noch die Schwestern Bertha und Amalie Salender. Bertha Salender starb 1937. Ihre Schwester folgte ihr am 19. März 1938. Wie bei Schimmel überliefert ist, soll sie sich aus Einsamkeit und der Schmähungen wegen erhängt haben. Mit ihr endete 1938 die jüdische Geschichte Neukalens.
Der jüdische Friedhof und das sanierte jüdische Stiftshaus erinnern heute noch an die ehemaligen Einwohner Neukalens. Werner Schröder und Wolfgang Schimmel haben sich um die Erforschung der jüdische Geschichte Neukalens besonders verdient gemacht. Viele der hier dargestellten Fakten sind ihren Publikationen und den vorangegangenen Recherchen zu verdanken.
(Gramenz, Jürgen / Ulmer, Sylvia - 01.02.2016)
- Schröder, Werner / Schimmel, Wolfgang: Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Neukalen (2010)
- Francke, Norbert / Krieger, Bärbel: Die Familiennamen der Juden in Mecklenburg: Mehr als 2000 jüdische Familien aus 53 Orten der Herzogtümer Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz im 18. und 19. Jahrhundert. Schriften des Vereins für jüdische Geschichte und Kultur in Mecklenburg und Vorpommern e. V., Verein für jüdische Geschichte und Kultur in Mecklenburg und Vorpommern e.V., Schwerin 2001
- Landeshauptarchiv Schwerin: Rep. 2.12.-4/5, Nr. 632 (Judenangelegenheiten), 665 (Generalverzeichnis der Schutzjuden)
- Schimmel, Wolfgang: Zur jüdischen Gemeinde Neukalen (2), Jahresheft des Neukalener Heimatvereins 1995, S. 11-18
- Schröder, Werner: Zur jüdischen Gemeinde Neukalen, Jahresheft des Neukalener Heimatvereins 1994, S. 26-34
Jüdische Bevölkerungsentwicklung in Neukalen
Familien mit Bezug zu Neukalen
Albu, Ascher, Behr, Behrens, Berendt, Berenssohn/Behrensson, Berg, Bernhard, Bragenheim, Cohn, Cossmann, Daniel, Elias, Enoch, Ephraimsohn, Feldmann, Fraustädter, Freudenthal, Friedländer, Heidenheim, Heynssen, Hirsch, Isaac, Jacob, Jacobson, Jaffe, Joseph, Koppel, Kronenberg, Ledermann, Lehmann, Levy, Lichtenstein, Liebmann, Lippmann, Löser, Löwe, Löwenthal, Löwi, Mannheim, Mathaei/Matthaei/Matthäi, Mayer, Meier, Mendel, Meyer, Michaelis, Moses, Riess, Rothschild, Saalfeld/Saalfeldt, Salender, Salinger, Salomon, Samuel, Saul, Schlachter, Schlomann, Schlomer, Schreiber, Simon, Sohn, Soldin, Tobias, Türckheim
Bekannte Holocaust-Opfer (11)
- Itte Emmy Berendt
- Willy Bragenheim
- Albert Bragenheim
- Gerd Bragenheim
- Horst Bragenheim
- Betty Herzberg geb. Hirsch
- Richard Löwe
- Ida Löwenstein geb. Löwi / Löwe
- Anna Rothschild
- Amalie Salender
- Ida Sussmann geb. Berendt
Veröffentlichungen zu den Juden von Neukalen
Publikationen
- Adreßbücher über und für den Gewerbe- und Handelsstand der Großherzogthümer Mecklenburg-Schwerin und Strelitz
- Mercantilisches Addreßbuch der Großherzogthümer Meckl.-Schwerin u. -Strelitz, worin: die Addressen der Magistratspersonen der Städte, der weltlich obrigkeitlichen Beamten der Flecken, der Accise- und Postbeamten, fremden Consuls, Advocaten, Apotheker, Kaufleute, Fabrikanten, Manufacteurs, Buchhändler, Gasthofinhaber und anderer dazu qualificirende Handels- oder industrielle Geschäfte treibende Leute in den Großherzopthümern, wie auch: bei jedem entsprechenden Orte Angabe seiner Wolkszahl, Meilenzeiger, Notizen über Schiffs-, Fuhrgelegenheiten etc.
- Arlt, Klaus / Beyer, Constantin / Ehlers, Ingrid / Etzold, Alfred / Fahning, Kerstin Antje: Zeugnisse jüdischer Kultur. Erinnerungsstätten in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen
- Borchert, Jürgen / Klose, Detlef: Was blieb... Jüdische Spuren in Mecklenburg
- Buddrus, Michael / Fritzlar, Sigrid: Die Städte Mecklenburgs im Dritten Reich: ein Handbuch zur Stadtentwicklung im Nationalsozialismus, ergänzt durch ein biographisches Lexikon der Bürgermeister, Stadträte und Ratsherren
- Schimmel, Wolfgang: Zur jüdischen Gemeinde Neukalen (2)
In: Jahresheft des Neukalener Heimatvereins 1995, S. 11-18 - Schröder, Werner: Zur jüdischen Gemeinde Neukalen
In: Jahresheft des Neukalener Heimatvereins 1994, S. 26-34 - Wilhelmus, Wolfgang: Juden in Vorpommern im 19. Jahrhundert
In: Heitmann, Margret / Schoeps, Julius H. (Hrsg.): „Halte fern dem ganzen Lande jedes Verderben ...“: Geschichte und Kultur der Juden in Pommern, Hildesheim/Zürich/New York 1995, S. 99-115
Links/Online-Ressourcen
Dokumente mit Bezug zu den Juden von Neukalen
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Beschreibung | Zeitpunkt/Zeitraum | Typ |
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Auszug aller privilegirten Juden und was selbige Laut der, mittelst Herzoglich Verordnung vom 20. Septbr. 1760 Communicirten Specification An Schutz-Geld Zur Herzoglich. Renterey von Anno 1749 bis zum Termino Trinitatis 1760 bezahlet haben, und darauf nach infinuation gedachter Specification, nemlich den 1ten Octobr. 1760 Restiren. | 1749-1760 | Transkript |
Gemeindeordnung der Israelitischen Gemeinde von Neukalen vom 30. Mai 1846 | 30. Mai 1846 | Transkript |
General-Verzeichniß der in den Städten des Großherzogthums Mecklenburg Schwerin privilegirten sämmtlichen Schutz-Juden | 3. Januar 1825 | Transkript |
Schutzjudenliste für das Jahr 1824 für Neukalen | 1824 | Transkript |